14.06.2022Konjunktur

„Globalisierung nicht grundsätzlich infrage stellen“

Dr. Ulrich Stephan, Chef-Anlagestratege der Deutschen Bank für Privat- und Firmenkunden, äußert sich im BME-Interview zum Status quo der deutschen Volkswirtschaft.
Die fragilen internationalen Lieferketten stressen nicht nur Einkauf und Logistik. Sie sind auch Gift für die ohnehin schwächelnde Weltwirtschaft. © Michoff/pixabay.com

BME: Wie präsentiert sich die deutsche Wirtschaft in der ersten Jahreshälfte 2022?

Stephan: Sie steht nach Ende des ersten Quartals überraschend gut da. Das belegen die aktuellen BIP-Zahlen, die preis-, saison- und kalenderbereinigt mit +0,25 Prozent gegenüber dem Vorquartal positiv überrascht haben. Nach der konjunkturellen Erholung im vergangenen Sommer und dem Rückgang zum Jahresende 2021 nahm die Wirtschaftsleistung im 1. Quartal 2022 wieder leicht zu. Die Stimmungsindikatoren haben sich ebenfalls stabilisiert. Das zeigt beispielsweise der S&P Global/BME-Einkaufsmanager-Index (EMI). Aufgrund der rückläufigen Neuaufträge sowie der weit verbreiteten Lieferverzögerungen schrumpften zwar die Produktionsraten deutlich und der EMI sank mit 54,6 Punkten im April auf ein 20-Monatstief nach 56,9 im März; dennoch bewegt sich der wichtige Konjunktur-Frühindikator weiter komfortabel über der 50-Punkte-Referenzlinie, ab der Wachstum angezeigt wird. Selbst der ifo Geschäftsklimaindex hat sich – wenn auch auf niedrigem Niveau – etwas gefestigt und ist im April auf 91,8 Punkte gestiegen, nach 90,8 Punkten vier Wochen zuvor.

Wie geht es jetzt weiter?

Ich befürchte, dass es für die deutsche Volkswirtschaft im 2. Quartal schwieriger werden wird, weil dann der Ukraine-Krieg voll durchschlagen könnte. Zudem dürfte sich die No-Covid-Strategie der chinesischen Führung negativ auf die globalen Lieferketten auswirken. Die angespannte Lage in den Märkten bekommt auch die deutsche Außenwirtschaft zu spüren. Das wurde bereits bei den veröffentlichten Exportzahlen für März sichtbar. Danach sind die deutschen Ausfuhren gegenüber dem Vormonat kalender- und saisonbereinigt um 3,3 Prozent gesunken.

Wie stark könnte sich ein Erdgasembargo auf die deutsche Konjunktur auswirken?

Erdgas wird nicht nur zur Energie- und Wärmeerzeugung benötigt, sondern spielt auch in vielen chemischen Prozessen eine zentrale Rolle. Einige Makroökonomen vertreten die Ansicht, dass der durch ein Embargo verursachte Rückgang des Bruttoinlandsproduktes in einer Größenordnung von minus drei bis vier Prozent zu verkraften sei. Ich befürchte jedoch, dass die wirtschaftlichen Folgen eines Stopps russischer Gasimporte unterschätzt werden. Denn es besteht die Gefahr, dass nicht alle industriellen Prozesse in den Modellberechnungen der Makroökonomen berücksichtigt werden. Das Problem ist, dass wir gegenwärtig weder über die erforderliche Infrastruktur noch über die geeigneten Lieferanten verfügen, um einen potenziellen Ausfall russischen Erdgases kurzfristig kompensieren zu können.

Die Unternehmen müssen künftig für mehr Widerstandsfähigkeit in den Lieferketten sorgen und diese breiter diversifizieren.

Dr. Ulrich StephanChef-Anlagestratege der Deutschen Bank für Privat- und Firmenkunden

Welche BIP-Prognose wagen Sie für 2022, wie hoch erwarten Sie die Inflationsrate?

Wir gehen von einem Wachstum des deutschen Bruttoinlandsproduktes von rund zwei Prozent und einer Inflationsrate von 6,5 Prozent aus. Sollte es jedoch in wenigen Wochen nach einem jetzt von der EU ins Auge gefassten Öllieferstopp auch noch zu einem kompletten Gaslieferstopp kommen, gehen wir von potenziell zweistelligen Inflationsraten und einem noch stärkeren BIP-Rückgang aus.

Sollte die deutsche Industrie angesichts der durch Corona offengelegten Defizite die Globalisierung neu durchdenken?

Die Unternehmen müssen künftig für mehr Widerstandsfähigkeit in den Lieferketten sorgen und diese breiter diversifizieren. Sie sollten unter anderem die Lagerhaltung ausbauen und die Zahl ihrer Lieferanten erhöhen. Das ist eine Diskussion, die wir gerade mit Blick auf China führen. Auch dort gibt es – ähnlich wie in Russland – Abhängigkeiten der deutschen Industrie. Deshalb halte ich es für richtig, die Wirtschaft insgesamt widerstandsfähiger zu machen und insbesondere Verlustrisiken zu minimieren. Ich halte es für falsch, die Globalisierung grundsätzlich infrage zu stellen. Die globale Arbeitsteilung ist vielmehr ein Segen für uns alle. Denn sie sorgt für den wachsenden Wohlstand der daran teilnehmenden Nationen.

Das Interview führte Frank Rösch, BME-Konjunktur- und Rohstoffmonitoring