Lieferketten fordern deutsche Verteidigungsindustrie heraus
„Die deutsche Verteidigungsindustrie ist eine Branche mit enormen Wachstumsperspektiven“, sagte Prof. Dr. Michael Eßig, Professor für Beschaffung und Supply Management an der Universität der Bundeswehr München, am Donnerstag auf dem 60. Symposium Einkauf und Logistik in München. Sie biete insbesondere Klein- und Mittelunternehmen noch interessante Geschäftsmöglichkeiten. Es gehe für Politik und Wirtschaft jetzt aber vor allem darum, den Ausbau rein-europäischer Supply Chains für sicherheitstechnologische Anwendungen, den strategischen Einkauf von F&E im Verteidigungsbereich sowie die Umstrukturierung von Produktionslinien zur Steigerung von Resilienz und Flexibilität nachhaltig zu beschleunigen.
„Unsere Branche erlebt eine Transformation hin zu einem neuen Normal. Das begann nicht erst mit dem russischen Angriffskrieg, sondern schon wesentlich früher“, betonte Dr. Christian Mölling vom Zentrum für Europäische Politik und EDINA: European Defence in a New Age, in seinem Statement. Diese Transformation werde bleiben, „weil wir so viele geopolitische und geoökonomische Veränderungen haben. Wir können uns auf eine neue Konfliktordnung einstellen, in der der Frieden erstritten und aktiv erhalten werden muss.“ Die Lieferketten hätten in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder gelitten – sei es durch die Ölkrise, Covid-19 oder jüngste US-China-Zölle. Allerdings nehme das Tempo zu. „Angesichts einer Beschleunigung und Verschärfung der Konflikte dürften die Lieferketten für uns alle eine große Herausforderung werden“, fügte Mölling hinzu.
„Wir leben in einer Zeit der absoluten Dringlichkeit“, so Dr. Hans Christoph Atzpodien, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie e.V. (BDSV). Er zitierte in diesem Zusammenhang den Generalinspekteur der Bundeswehr, wonach „wir uns in einer dämmrigen Übergangsphase zwischen noch nicht Krieg und nicht mehr Frieden“ befinden. Vor diesem Hintergrund sei es „eine Heldentat der derzeitigen Bundesregierung gewesen, dass sie für Verteidigung und verteidigungsrelevante Infrastruktur die Schuldenbremse gelockert“ habe. Hätte sie das nicht getan, hätte Deutschland auf dem NATO-Gipfel in Den Haag keine 5-Prozent-Zusage machen können. Fünf Prozent vom Bruttoinlandsprodukt, davon 3,5 Prozent direkt für Verteidigung und 1,5 Prozent für verteidigungsrelevante Infrastruktur, seien Größenordnungen, die die deutsche Wirtschaft verändern werden. 2029 werde Deutschland in einem Gesamthaushalt von 570 Milliarden Euro allein 153 Milliarden Euro für Verteidigung und eine weitere beträchtliche Summe für verteidigungsrelevante Infrastruktur ausgeben. Die davon ausgehende Bedeutung und Wirkung habe die deutsche Wirtschaft noch nicht realisiert. Es sei für „unsere Wirtschaft eine gewaltige Herausforderung, die wir angehen müssen“, zeigte sich Atzpodien überzeugt. Viele Unternehmen überlegten derzeit, wie sie sich an Verteidigungs- und Rüstungsprojekten beteiligen können.
Frank Ohle, Director Global Procurement der NVL B.V. & Co. KG, informierte, dass 90 Prozent des diesjährigen Einkaufsvolumens der Werftengruppe auf Deutschland, weitere fünf Prozent auf die EU und weitere fünf Prozent auf Länder außerhalb der EU entfallen. Durch die geopolitische Lage der Lieferanten sei die NVL-Lieferkette stabil. Die Steigerung der Volumina sei auch für NVL ein wichtiges Thema. Ohle: „Wir sprechen mit den Lieferanten, wie sie uns mit den steigenden Bedarfen befriedigen können; gleichzeitig suchen wir im Rahmen unseres Projektgeschäfts nach Second Sources.“
„Für uns stellt sich auch die Frage, wie wir mit dem boomenden Bedarf an unseren Rüstungsgütern umgehen, erläuterte Heinz Oestervoß, Senior Vice President der KNDS Deutschland GmbH & Co. KG, einem in München ansässigen Rüstungsunternehmen, das vor allem Radpanzer und Kettenfahrzeuge produziert. Problem sein, dass die Standorte Kassel und München an ihre Kapazitätsgrenzen kommen und nicht ohne weiteres ausgebaut werden könnten. Wie andere Firmen der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie suche auch KNDS weitere Lieferantenquellen, um höhere Stückzahlen herstellen zu können. Der Fokus liege dabei aber nicht auf „einzelnen Drehteilen, sondern auf ganzen Systemen“.